Montag, 11. Juli 2011

Heilige Scheisse

Zunächst ein kleiner Tusch: Dies ist der zweihundertste Artikel auf Phemios Aoidos. Ta-daa! Ich bin selber vielleicht am meisten beeindruckt von diesem Output (wohl etwa soviel wie meine Lizarbeit und sämtliche Seminare zusammen, aber wesentlich lesbarer). Der zukünftige Herausgeber meiner gesammelten Werke wird richtig was zu tun haben.

Von der Selbstbeweihräucherung jetzt aber ganz schnell wieder zurück in den Freiburger Festivalsommer. Wie zur Bestätigung meines letzten Artikels, in dem ich das Belluard-Festival als Wundertüte charakterisiert hatte, erlebten wir drei Tage nach der mittelmässig überzeugenden Klanginstallation im Bollwerk einen spritzigen, vielschichtigen und tiefsinnigen Abend in der Ancienne Gare. Anlass: die Projektion des Filmes Chacun sa merde von Hugues Peyret.

Ein so respektloser Titel verlangt nach einer Erläuterung. Thema des Films ist das Kunstprojekt (ich nenns jetzt einmal so) Merda d’artista des italienischen Künstlers Piero Manzoni. Dieser produzierte 1961 neunzig kleine Konservendosen, nummeriert, signiert und mit einer Etikette versehen, auf der in vier Sprachen zu lesen ist:

Künstlerscheisse
Inhalt netto 30 g
Natürlich erhalten
Dosenprodukt Mai 1961

Manzoni setzte den Verkaufspreis seiner Dosen auf den Gegenwert ihres Gewichts in Gold fest. Nach dem frühen Tod des Künstlers, zwei Jahre nach der Dosenproduktion, im Alter von erst dreissig Jahren, begannen das Interesse an und die Nachfrage nach seinen Werken bald gewaltig zu steigen. Die Merda-Dosen wurden zu Stammgästen in Museen, Ausstellungen und auf Auktionen; ihr Preis entwickelte sich weitgehend parallel zu den Zyklen auf dem Kunstmarkt. In den Boomjahren gegen Ende des letzten Jahrtausends erreichte er den Wert von drei Kilo Gold; im Oktober 2008 ging eine Dose bei Sotheby’s gar für beinahe hunderttausend Pfund Sterling weg.

Wenn das erste Nasenrümpfen über die unflätige Idee mal durch ist, merkt man bald und unweigerlich, wie vielschichtig und facettenreich Manzonis Werk ist, welche Gedankenstränge es eröffnet, welche Assoziationen es auslöst. Meine erste, leicht verstörte Frage war: Verarscht der uns jetzt, oder ist das ernst? Ist das ein richtiges Kunstwerk, oder ein Kommentar zum Kunstbetrieb auf irgendeiner Meta-Ebene? Unzweifelhaft ist ihm letzteres überragend gelungen. Wie die Preiskurve der Dosen die Fieberkurve des internationalen Kunstbetriebs getreulich abbildet, ist fast zu schön, um wahr zu sein. Gleichzeitig werden in den Gesprächen mit den Besitzern und Kuratoren andere Mechanismen des Kunstmarktes deutlich. Beispielsweise steigt der Wert einer Dose, wenn sie in einer renommierten Publikation abgebildet oder in einer wichtigen Ausstellung vertreten war. Ein italienischer Sammler kriegte sich kaum mehr ein vor Freude, dass seine Leihgabe ans Centre Pompidou in einer Fernseh-Dokumentation prominent zu sehen war: Beim Weiterverkauf wird er tüchtig Kasse machen! So trägt jeder aktuelle oder künftige Besitzer, jede Auktion, jede Ausstellung, ja eigentlich jede öffentliche Äusserung zum Gesamtkunstwerk Merda d’artista bei.

Man kann natürlich auch die weniger kommerziellen und mehr kunstgeschichtlichen Aspekte in den Blick nehmen. Dass die Künstlersignatur aus einem Alltagsobjekt ein Kunstwerk macht – darin zeigt sich Manzoni als origineller Nachfolger von Duchamp und seinen Ready-mades. Aber es ist eben nicht einfach ein gewöhnliches Alltagsobjekt, es ist wirklich und wahrhaftig sogar ein Stück vom Künstler selber. Ein ziemlich überdreht psychologisierender italienischer Sammler hatte schon Recht, als er den Vergleich mit Reliquien machte. Diesen Aspekt hat auch Manzoni selber betont, als er davon sprach, dass die Sammler immer am Intimen, Persönlichen des Künstlers interessiert sei, und dass er genau dies ihnen biete: seine höchstpersönlichen Ausscheidungen. Intimer geht nicht.

Unvermeidlich ist schliesslich die Ambivalenz aus Abscheu vor und Faszination an dem (angeblichen) Inhalt der Dose, den menschlichen Exkrementen. Fast scheint dies für die im Film porträtierten Personen die Kernfrage zu sein, was denn nun wirklich da drin ist. „Scheisse, steht ja drauf“ – so antworten viele, besonders die begeisterten Sammler. Kunsthistoriker und Familienmitglieder Manzonis hingegen zögern: Keine Ahnung, was der da tatsächlich reingepackt hat. Vielleicht hat er uns gleich doppelt verarscht, indem er Sand oder Kiesel eingefüllt hat? Augenzeugen wollen den Künstler mit Löffel und Eimer hantieren gesehen haben, aber die Berichte widersprechen sich. Wer an die Scheisse-Theorie glaubt, kann sich dann weiteren Ängsten hingeben: Ist das Zeug sicher? Besteht nicht Explosionsgefahr durch die chemischen Reaktionen in diesen Dosen? War das vielleicht gar Manzonis Absicht, dass in einigen Jahren in Sammlervitrinen in der ganzen Welt seine Werke in die Luft gehen? Solches ist bisher nicht passiert. Allerdings haben einige Dosen zu lecken begonnen und mussten restauriert werden. Die Analyse des austretenden Materials, immerhin, ergab: Exkremente. Und der Museumsdirektor präzisiert: Ob menschlich oder tierisch, konnte nicht festgestellt werden.

Hugues Peyret hat eigentlich nichts anderes getan, als möglichst viele der neunzig Dosen aufzuspüren (eine Heidenarbeit), einige ihrer Besitzer oder Aussteller zu besuchen und ihre Geschichte zu erzählen. Er hat sein Material souverän auf eine Stunde zusammengeschnitten und mit staubtrockenem Humor kommentiert. So hat er einen Film geschaffen, der seinem Gegenstand an Esprit und Vielschichtigkeit in nichts nachsteht, und damit reichlich Stoff zum vergnügten Lachen und anregenden Diskutieren.


Technisches: Chacun sa merde; suivi de la boite de merde. Deux films de Hugues Peyret. DVD, 2010. Ein Trailer zum Film ist auf Youtube zu finden.

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