Man würde sich wünschen, dass alles nur ein Thriller wäre, klug komponiert, zeitlich und geografisch breit gefächert, vielleicht aus Gründen der Dramatik da und dort etwas überspitzt. Aber leider ist es eine historische Dissertation, vierhundert Seiten stark, dazu 40 Seiten Anmerkungsapparat, ursprünglich auf Englisch bei Routledge veröffentlicht, bereits in sieben europäische Sprachen übersetzt und jetzt auch noch ins Deutsche, die Muttersprache des Autors Daniele Ganser: NATO-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung. Der Basler Historiker geht darin den Spuren jener geheimen Streitkräfte nach, die nach dem Zweiten Weltkrieg in allen NATO-Länder als Stay-behinds eingerichtet wurden; als von der regulären Armee unabhängige Spezialtruppen also, die im Fall einer sowjetischen Invasion im besetzten Gebiet verbleiben, als Guerilla den Widerstand aufnehmen, Nachrichten beschaffen, Personen in Sicherheit bringen und Sabotageakte durchführen sollten. Diese Truppen trugen bald blumige (Gladio), bald nüchtern-codierte Namen, verwendeten weitgehend die gleiche Funkinfrastruktur und waren miteinander durch verschiedene Koordinationsgremien vernetzt.
Ganser arbeitet die militärische Logik dieser Geheimarmeen gut heraus: Die Angst vor einer Invasion aus dem Osten war gross, und man wollte nicht wieder (wie im Zweiten Weltkrieg gegen Hitlerdeutschland) überrascht werden, um dann den Widerstand gegen den Eroberer gewissermassen improvisieren zu müssen. Dass die sukzessive Aufdeckung dieser verdeckten Strukturen ab 1990 trotzdem zu einem Skandal führte, hat zunächst damit zu tun, dass jegliche parlamentarische Kontrolle über die Geheimarmeen fehlte und in der Regel nur ausgewählte hohe Exekutivmitglieder eingeweiht waren. Die nationale Souveränität über die eigene Verteidigung wurde dabei oft geritzt und gelegentlich schlicht ignoriert, da US-kontrollierte Institutionen innerhalb der NATO die Kontrolle über die Stay-behinds ausübten und die Kommandogewalt zum Teil ausdrücklich bei amerikanischen Generälen lag. So erklären sich der Aufschrei der Empörung in den hintergangenen nationalen Parlamenten und die Tatsache, dass ein guter Teil der vorliegenden Analysen auf Arbeiten parlamentarischer Untersuchungskommissionen beruhen.
Richtig unangenehm wird die Lektüre von Gansers Buch jedoch, wenn klar wird, welchen Schaden an der Demokratie der strikte, paranoide Antikommunismus angerichtet hat, der diesen Geheimarmeen wesentlich zugrunde lag. Das fing an mit der Rekrutierung ihrer Mitglieder – denn wo konnte man sicherer sein, Leute mit unerschütterlich antikommunistischer Gesinnung zu finden, als in rechtsextremen und faschistischen Kreisen? So wurde der deutsche Kriegsverbrecher General Reinhard Gehlen, der sich zahlloser Grausamkeiten gegenüber sowjetischen Kriegsgefangenen schuldig gemacht hatte, dank seiner Informationen und seines Netzwerkes Chef des ersten deutschen Geheimdienstes und Vater der deutschen Geheimarmee. Andere Nazis wie Klaus Barbie, der „Schlächter von Lyon“, wurden als Informanten rekrutiert und bei Gefahr oder Problemen gedeckt und beschützt. Die faschistoiden Diktaturen in Spanien und Portugal dienten derweil als Austausch- und Rückzugsort für rechtsextreme Geheimagenten aus ganz Europa. Und weil die Paranoiker in den NATO-Führungsetagen im Kalten Krieg die rote Gefahr nicht nur in den Armeen des Warschauer Paktes witterten, sondern mehr oder weniger auch in allen, die im demokratischen System des Westens links der Mitte politisierten, war es eigentlich nur folgerichtig, dass die ursprünglich als Partisanentruppen gegründeten Geheimarmeen auch für den verdeckten Kampf gegen linke Parteien und Gruppen eingesetzt wurden. In Italien fand Richter Felice Casson ab 1984 heraus, dass mehrere Terroranschläge in den „bleiernen“ sechziger und siebziger Jahren, für welche die linksextremistischen Brigate Rosse verantwortlich gemacht worden waren, in Wahrheit von rechtsextremen Gruppen verübt wurden, die zur Gladio-Geheimarmee gehörten oder mindestens durch die Gladio-Strukturen gedeckt waren. Gladio war in Italien auch für die Vorbereitung zweier (nicht ausgeführten) Staatsstreiche 1964 und 1970 verantwortlich. So sorge die Stay-behind für Angst und Schrecken und übte gleichzeitig subtilen Druck auf die linken Parteien aus. In Griechenland waren ab 1944 zunächst die kommunistischen Partisanen der ELAS, später dann die verschiedenen Parteien links der Konservativen mit amerikanischer Hilfe und unter anderem durch die NATO-Geheimarmee Hellenic Raiding Force bekämpft worden. Als die Stärke der Linken in mehreren Wahlen nicht entscheidend ab-, sondern eher noch zunahm, griff die Hellenic Raiding Force zum ultimativen Mittel des Staatsstreiches: Nach dem Putsch vom 21. April 1967 etablierte sich für sieben Jahre eine brutale, rechtsnationalistische Militärdiktatur. Und in der Türkei bestand die NATO-Geheimarmee nicht nur aus den paar Dutzend bis Hunderten Widerstandskämpfern, wie in den übrigen Ländern, sondern nahm ganz andere Dimensionen an und wurde zu jenem „tiefen Staat“, der mittels wiederholter Staatsstreiche, Militärregierungen und Repressalien gegen die Minderheiten der Kurden, Armenier und Griechen die Nachkriegspolitik des Landes entscheidend prägte.
Neben den Extremfällen Italien, Griechenland und Türkei wurden auch in anderen NATO-Staaten mindestens Vorbereitungen für illegale Aktivitäten gegen kommunistische und linke Parteien getroffen. Daniele Ganser hat in mühsamer Kleinarbeit die bekannten Fakten zum Stay-behind-Netzwerk der NATO zusammengetragen. Die Quellenlage ist naturgemäss dürftig. So machen journalistische Berichte und parlamentarische Untersuchungen einen grossen Teil des Rohmaterials aus, währenddem echte, deklassifizierte Geheimdienstdokumente nur in glücklichen Ausnahmefällen zur Verfügung stehen. Deshalb bleibt vieles im Vagen, und der Autor muss sich an einzelnen Stellen spürbar zurückhalten, um nicht Unbestätigtes auch zu den Resultaten seiner Untersuchung zu schlagen. In Anbetracht der gefestigten Fakten fällt es tatsächlich schwer, nicht zum Verschwörungstheoretiker zu werden. Der Ruf nach weiterer Forschung, der in den Vor- und Nachworten erhoben wird, ist absolut gerechtfertigt.
Leider wird die Lektüre dieses wichtigen Werkes durch ein sehr nachlässiges Lektorat unnötig erschwert. Natürlich darf man von einer Dissertation keine literarischen Qualitäten erwarten. Aber über den vielen Einzelbetrachtungen der NATO-Länder, die fast den Charakter eigenständiger Artikel annehmen, geht bisweilen die Leserführung durch das Gesamtwerk verloren. So werden Institutionen und Akteure der Zusammenarbeit halbherzig neu erklärt, obwohl sie zuvor schon eingeführt wurden, und nützliche Querverweise fehlen praktisch vollständig. Der Autounfall von Susurluk 1996 beispielsweise, der bei der Aufdeckung der Geheimarmee-Strukturen in der Türkei eine wesentliche Rolle spielte, kommt bereits in der Einleitung auf p. 50 zur Sprache und wird auf p. 367 beiläufig erwähnt, bevor er auf p. 374 ausführlich beschrieben und eingeordnet wird, ohne dass auf die früheren Stellen Bezug genommen wird. Verwirrung herrscht auch bei gewissen Namen. Der 1954 mit CIA-Beihilfe weggeputschte guatemaltekische Präsident Jacobo Arbenz Guzmán heisst auf p. 66 Jakobo Arbenz, auf p. 106 Arbanez und auf p. 120 Alvarez. Der CIA-Offizier Thomas Karamessines (p. 125f., 337) wird zunächst standhaft als Karamessiness (pp. 101, 108, 122) eingeführt, was zudem seine im Kontext nicht unwesentliche griechische Herkunft verschleiert. Ein aufmerksameres Lektorat hätte auch Übersetzungsfehler wie „11th du Choc“ (als Abkürzung für das unter wechselnden Namen firmierende französische Spezialregiment 11e demi-brigade parachutiste du choc) korrigiert und sprachliche Holperer wie das verunglückte Zitat auf p. 299 oben geglättet.
Man muss diese Unzulänglichkeiten in Kauf nehmen, um sich in die gleichermassen faszinierenden wie empörenden Abgründe westlicher Politik im Kalten Krieg zu vertiefen. Daniele Ganser arbeitet den fragmentarisch zerstreuten Wissens- und Forschungsstand auf und bietet eine souveräne Rundumsicht. Beunruhigend ist, was noch fehlt: War beispielsweise die Schweizer Geheimarmee P-26 mit dem NATO-Netzwerk stärker als nur durch gemeinsame Ausbildung verknüpft? Und welche Strukturen traten denn wohl an die Stelle all dieser Geheimarmeen, als sie Anfang der neunziger Jahre unter öffentlichem Protest aufgelöst wurden? Man wünscht Daniele Ganser einen langen Atem und viel Hartnäckigkeit für seine weiteren Arbeiten.
Technisches: Daniele Ganser, NATO-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung. Aus dem Englischen übersetzt von Carsten Roth. Zürich, Orell Füssli 2009. ISBN 978-3-280-06106-0.
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