Freitag, 24. Juni 2011

Lesegenuss

Keinen der bald zweihundert Artikel auf diesem Blog habe ich so teuer bezahlt wie den letzten: Beim Fertigschreiben und Publizieren ist eine eigentlich schon überstanden geglaubte Halskehre erst so richtig losgegangen, die mich dann einen ordentlichen Teil der beiden folgenden Wochen unter Drogen ins Bett gezwungen hat. Erst heute wage ich mich – nach einer nun doch schadenfrei überlebten Arbeitswoche – wieder zu mehr als etwas Surfen und Fernsehen an den Computer. Dass ich ausgerechnet in den lichten Momenten dieser Zeit ein Buch mit dem Titel Geniessen gelesen habe, hat etwas von einem schlechten Witz. Aber man soll ja gerade dann besonders zu sich schauen, wenn es einem nicht so gut geht, und die Lektüre war tatsächlich ein Hochgenuss.

Soviel ist schnell gesagt. Etwas schwieriger ist es, das Buch präzise zu charakterisieren; denn es ist (passend zum Thema) eigentlich eine einzige grosse Aus- und Abschweifung. Der Autor Gero von Randow ist ein erfahrener Journalist, hauptsächlich im Wissenschaftsressort, aber auch in diversen leitenden Funktionen und seit 2008 als Korrespondent (in Frankreich, wo sonst); daneben hat er mehrere Bücher verfasst, darunter einen Bestseller zur Wahrscheinlichkeitsrechnung. Vor allem aber ist er ein überaus interessierter und kultivierter Mann. Seinem Buch zur Geschichte und Philosophie des Geniessens gibt er zwar äusserlich die Grobstruktur eines Festmenüs, warnt aber schon auf der ersten Seite vor den zahllosen Abschweifungen, die dem Leser bevorstehen. Und legt gleich los: Ein Gericht, ein Produkt, ja eine simple Redewendung ist ihm Anlass zu einem „apropos“, einem „übrigens“ – und kaum hat man sichs versehen, ist man mitten in einem Film, in einer Spezereihandlung, an einem Fürstenhof, in einem anderen Jahrhundert. Und alles ist durchsetzt von trefflichen, eigenen und geborgten geflügelten Worten sonder Zahl. Wer sich unter Geniessen aber eine simple Anekdotensammlung vorstellt, liegt dennoch falsch, denn man lernt etliches bei der Lektüre: die Geschichte der Kochkunst beispielsweise, oder kluge Überlegungen zur Ethik des Genusses. Von Randow bringt es fertig, ein beeindruckendes Wissen an den Mann und die Frau zu bringen, ohne besserwisserisch zu wirken. Sogar wenn er von einem ganz speziellen Bordeaux aus einem ganz bestimmten Jahr schwärmt, wirkt er nie wie ein Snob, vielmehr wie ein reiner Gourmet, der sich dermassen über eine Entdeckung freut, dass er sie mit der ganzen Welt teilen möchte.

Dieses Buch geniesst man wie ein Glas guten Weines. Es ist bibliophil gestaltet, in Leinen gebunden, meisterhaft gesetzt und mit Lesezeichen versehen. Und es ruft unaufdringlich, aber überzeugend die kulturelle und zivilisatorische Bedeutung des Genusses ins Gedächtnis zurück.


Technisches: Gero von Randow, Geniessen. Eine Ausschweifung. Hamburg, Hoffmann und Campe 2001. ISBN 3 455 11278 1.

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