Dienstag, 15. Januar 2008

Zauberland

Zum Ausklang des Neujahrsabends eine DVD, ein fantastisches japanisches Anime: Chihiros Reise ins Zauberland. Das Zauberland ist bei Tag getarnt als verborgener und verlotternder Themenpark, erwacht jedoch bei Nacht zum Leben und verliert dabei jegliche Verbindung zur realen Welt. Und Chihiro ist eine Zehnjährige, die mit ihrem Hinterhofmacho von Vater und ihrer ungeduldigen Mutter eigentlich ins neue Haus ziehen sollte, aber auf dem Weg dorthin auf den Eingang des Themenparks stösst und sich darin umsieht. Die Eltern erliegen der Verlockung einer Imbissbude, worauf sich die quengelnde und leicht verängstigte Chihiro selbständig macht. In Windeseile wird es Nacht, die Lichter gehen an, das Zauberland bevölkert sich mit mysteriösen Wesen jeglicher Art; in Panik sucht Chihiro ihre Eltern, die sie fressend in Schweine verzaubert findet, und wäre nun ganz allein – wenn nicht ein mysteriöser Junge namens Haku sie erst mal von den allem Menschlichen gegenüber misstrauischen Geistern retten und ihr dann einen Weg aufzeigen würde, wie sie nicht nur überleben, sondern sich schliesslich auch wieder aus ihrem unfreiwilligen Fantasieexil befreien kann.

Der Film hat seinerzeit nicht nur einen Oscar gewonnen, sondern reihum hymnische Kritiken geerntet. Gelobt wurde die verschwenderische Ausstattung; herausgehoben wurden zu Recht die beissende Kritik an Konsumwahn, Gier und Umweltverschmutzung. Mir hat etwas anderes noch mehr Eindruck gemacht: Ihr Weg führt unsere Heldin von unten bis oben durch die fantasmagorische Konstruktion eines Badehauses für Geister und Götter, durch Räume und zu Wesen, die auch Stärkeren und Erfahreneren das Herz in die Hose fallen lassen würden. Die kleine Chihiro, die jetzt Sen heisst (der Verlust des Namens ist ihr Pfand), bezwingt ihre Angst und lernt: Nichts ist hier, wie es scheint. Der freundliche Haku: ein kalter Erfüllungsgehilfe? Der spinnenbeinige Kamajii: ein kauziger, aber liebenswerter Helfer? Die abkanzelnde Lin: eine treue Gefährtin in allen Gefahren? Die omnipotente, brutale Hausherrin Yubaba: ein weiches Gemüt und besorgte Mutter? Der geheimnisvolle, hilfsbereite Kaonashi („Ohngesicht“): ein allesverschlingendes Monster? Währenddem das Leben im Zauberland von Kälte, Traurigkeit und Aggression dominiert zu sein scheint, findet Chihiro mit Mut und Menschlichkeit zu allen einen Zugang. Und diszipliniert und ausdauernd erreicht sie nicht nur ihre und ihrer Eltern Erlösung, sondern erlöst auch den widerwärtigen unreinen Geist von seinen Gebresten, versöhnt Ohngesicht mit seiner Traurigkeit und gibt ihrem Beschützer Haku seinen wahren Namen wieder.

Bilder von fantastischer Fabulierlust und grosser Schönheit, wilde Verfolgungsjagden, dramatische Magie und Augenblicke voller Poesie – dieser Film hat alles. Ich bin etwas erschlagen von der Überfülle des Inhalts: Wie nie erzählte Geschichten tauchen laufend Details und Gedanken auf, die ich gerne noch weiter ausgeführt sähe – welche Verschwendung von Fantasie und Material! Oder besser: welche Grosszügigkeit... Anzufügen bleibt, dass ein mit der japanischen Kultur vertrauter Zuschauer die ganze Symbolwelt der Geister, Architektur und Ausstattung nicht nur geniessen, sondern auch verstehen würde, so dass für ihn unter der überbordenden Oberfläche noch eine zusätzliche Tiefe liegt. Diese Dimension verstand ich nicht. Aber ich nahm sie wahr in der Fremdheit, die als geheimnisvolle Schicht über den Bildern des Zauberlands lag.


[UPDATE: Website-Umbau bei den Oscars und anderswo, Links wurden angepasst oder gelöscht.]

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