Samstag, 2. Februar 2008

Archäologie der Gegenwart

Wie viel sind fünfzig Jahre? In der Archäologie zum Beispiel kennt man genaue Datierungen nur für einzelne Bauwerke und Objektgattungen; oft kommt man nicht näher ran als zehn, zwanzig Jahre; und seitdem ich mich nicht mehr als Student (also quasi professionell), sondern nur noch als Liebhaber mit Archäologie beschäftige, bin ich schon froh, wenn ich bei einer Skulptur das halbe Jahrhundert treffe.

Im Schnitt ein halbes Jahrhundert alt sind die Fotografien aus Stadt und Kanton Freiburg von Johann und Jean Mülhauser. Vater und Sohn Mülhauser führten in Freiburg ein Fotogeschäft und arbeiteten daneben als halboffizielle Fotografen von Stadt, Kanton und Uni; sie dokumentierten über die Jahrzehnte hinweg grosse Baustellen, wichtige religiöse und weltliche Feste und das Alltagsleben. Ihr Nachlass, 800'000 Negative, liegt in der Kantons- und Universitätsbibliothek Freiburg, welche aus Anlass des Stadtjubiläums hundert davon (nur hundert, leider!) in einer Ausstellung und einem Buch präsentiert: „Das Freiburg der Mülhauser, 1930-1975“. Ob dem Aristophanes die Zeit des Aischylos auch so fern vorkam wie mir diese Bilder? Die Schnelllebigkeit unserer Epoche ist bekannt und irritiert doch, wenn sie einem so luzide vorgeführt wird. Sie äussert sich in Freiburg in verschiedener Hinsicht. Die bauliche Entwicklung der Stadt seit dem Zweiten Weltkrieg war rasant; das Verschwinden des Trams, die oft rabiate Abbruch- und Neubaupolitik springen besonders ins Auge. Die Brüche in Gesellschaft und Religion äussern sich in der ehemaligen katholischen Zitadelle Freiburg schärfer und offensichtlicher als anderswo. Und so blättere ich fasziniert durch dieses Periskop in die nahe Vergangenheit: An der Stelle des Manor stand erst ein kleiner Laden, an der Stelle des Molino eine schicke Brasserie, gegenüber die splendide Fassade des Warenhauses Knopf; elegant erhob sich das Kuppeltürmchen des Café du Simplon, wo jetzt ein gesichtsloses Hotel aus den Siebzigern steht. Priester und Prälaten in Soutane oder vollem Ornat, Nonnen mit jenen geschwungenen, spitzen Schleiern, die man nur noch aus der Benetton-Werbung kennt, Studenten in Anzug und Krawatte, Rekruten im schweren Kaputt, adrett gescheitelte Buben, Mädchen mit weissen Strümpfen und Schleifen im Haar bevölkerten diese Stadt. Am faszinierendsten sind die Bilder vom Neubau der Galternbrücke: die ersten Balken des Lehrgerüsts und das letzte Kabel der alten, abgebrochenen Hängebrücke hoch über der Schlucht, dahinter bereits die Hochhäuser einer neuen Zeit.

Kurz vor seinem Tod fasste Jean Mülhauser zusammen: „Tout est sujet à être photographié...“ Seine Bilder tragen die Patina einer einfacheren, aber vielleicht heileren Welt. Sie laden ein zur Spurensuche in einer Stadt, die ich zu kennen glaubte.


Technisches: Le Fribourg des Mülhauser / Das Freiburg der Mülhauser, 1930-1975, ed. Emmanuel Schmutz. Fribourg, Editions La Sarine, Paulusverlag und Bibliothèque cantonale et universitaire, 2007. ISBN 978-2-88355-112-1 bzw. 978-3-7228-0734-8. Die Ausstellung zum Buch in der Kantons- und Universitätsbibliothek Freiburg (BCU) dauert noch bis zum 1. März 2008. Die Website der BCU bietet einen hervorragenden Online-Zugang zum Fonds Mülhauser.

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