Der englische Autor Stephen Poole bezeichnet Videospiele als die zehnte Kunst und prognostiziert, dass „Computerspiele in naher Zukunft gleichberechtigt neben Film, Theater und Literatur stehen werden“. Noch werden sie von der Gesellschaft in die Schmuddelecke gestellt, beeinflussen aber bereits intensiv Hollywood und die bildende Kunst – und vice versa. Ein Videogame („Virtual Rage IV“) ist der Dreh- und Angelpunkt der Hamlet-Adaptation „Hank“ des Berner Fool’s Proof Theatre. Hank ist ein Teenager und hat beim Spielen eine Souveränität und Gelassenheit, die schroff kollidiert mit seiner Verlorenheit in der realen Welt, in der er irgendwie fehl am Platz ist: Sein Vater ist gestorben; sein schmieriger Onkel Klaus macht sich an Haus, Firma und Frau ran, und Hanks Mutter ist doof genug, auf den Hinterhofmacho reinzufallen. Als wäre das nicht genug, erscheint ihm der Vater als Geist, bezeichnet Klaus als seinen Mörder und fordert Hank auf, ihn zu rächen. Zudem ist der junge Gamer auch in der Liebe eher überfordert. Seine Zuneigung zu Sophie legt zwar eine starke neue Seite seines Wesens offen, ist aber alles andere als einfach. Kein Wunder, dass Hank seine parallelen Welten vermischt, dass er sich einen Restart wünscht, dass er fliegen und flüchten möchte. Das Spiel wird zur Realität, die Realität zum Spiel; das Verhängnis, wir wissens von Shakespeare, ist unausweichlich.
Virtuos vermischen Mary Pearson, Britt Jürgensen und Fabian Gysling Maskenspiel, bande dessinée und Video, Berndeutsch, Hochdeutsch und Englisch zu einer rasanten, comicartigen Tragikomödie. Dass die grossen Stoffe der Dramengeschichte aktueller sind als das meiste, was in unseren Zeitungen steht, ist bekannt. Hamlet statt als grübelnder Student als unsicherer Teenager, der Geist seines Vaters als Erscheinung im Videospiel anstatt in einer nächtlichen Vision, die entlarvende Theaterszene als Rap auf der Schulbühne: Die Geschichte funktioniert auch 2008 – mit wenigen Abstrichen wie der Schlussszene, die als kurze, knappe Messerstecherei etwas von ihrer Überzeugungskraft verliert. Und, um gleich noch eine Kritik anzubringen: Die Masken und die Sprachvielfalt erschwerten passagenweise das Verständnis des Texts. Zum Glück ist das Zielpublikum jünger als ich; das Fool’s Proof Theatre hat Hank für Schulen konzipiert und bietetbot dazu eine reiche Auswahl von Materialien und Workshops an. Auf dem Flyer steht sinnigerweise „Für Teenager und alle, die sich erinnern“. So verbindet sich die alte Geschichte des Prinzen Hamlet mit den Erinnerungen aus unserer eigenen Vergangenheit und der Scheinwelt von Virtual Rage IV zu einer zeitlosen Konfrontation von Charakteren und Schicksalen.
[UPDATE: Fool's Proof Theatre hat seine Website umgebaut; die Informationen zu Hank sind dabei leider in die Geisterwelt eingegangen.]
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