Freitag, 29. Februar 2008

Atonement

Was ist es, das unser Schicksal in jenen Augenblicken, in denen es auf Messers Schneide balanciert, auf die eine oder andere Seite stösst? Einer griechischen Tragödie ähnlich seziert Joe Wrights Film „Atonement“ (Abbitte) die Momente, in denen sich nicht nur das Abendmenü, sondern ganze Lebensgeschichten entscheiden. Ort der Handlung ist ein nobler Landsitz in England; den Part der Parze spielt die dreizehnjährige Briony Tallis. Sie hat die unbändige Phantasie und Altklugheit eines Wunderkindes, das bereits um seine zukünftige Karriere als Schriftstellerin weiss. Diese Eigenschaften spielen eine entscheidende Rolle in ihrer Analyse zweier Szenen und eines Briefes zwischen ihrer Schwester Cecilia und dem Dienerssohn Robbie; sie führen dazu, dass die schlaue Briony die zunächst mühsam zurückgehaltene, danach gewaltig sich entladende erotische Spannung zwischen den beiden missversteht und, von ihrer galoppierenden Phantasie und schlecht verdauter Eifersucht missgeleitet, Robbie eines Verbrechens bezichtigt, das ihn von Cecilia trennt, in den Knast und den Krieg bringt. Wright bedient sich für seine Analyse eines simplen Kunstgriffs: Die beiden entscheidenden Szenen zeigt er zwei Mal, aus Brionys Perspektive und aus derjenigen der Liebenden. Die Unterschiede sind minim; nur Nuancen geben dem Vorgefallenen eine leicht abweichende Färbung und Interpretation.

Die Nuancen und Zufälle, die unser Schicksal formen, sind mithin das Thema der ersten Hälfte des Films. Die zweite Hälfte konfrontiert diese Nichtigkeiten mit ihren Konsequenzen, mit deren unerbittlichen Härte und Unausweichbarkeit sie so schreiend kontrastieren. Denn die Konsequenzen sind ja nicht nur das Leid, das Robbie und Cecilia widerfährt, sondern auch das Glück, das ihnen entgeht. Und dabei ist es egal, ob sie tatsächlich glücklich geworden wären, wenn das Schicksal auf die andere Seite gekippt wäre. Was den Verlust so unerträglich macht, ist das entgangene Ideal, wie Robbie es in einem seiner Briefe erträumt:

„The story can resume. The one I had been planning on that evening walk. I can become again the man who once crossed the sunny park at dusk in my best suit, swaggering on the promise of life. The man, who with the clarity of passion, made love to you in the library. The story can resume.
I will return.
Find you. Love you.
Marry you and
live without shame.”

Grundlegend dafür, dass „Atonement“ so überzeugt, dass der Film nach dem Verlassen des Kinos gleichsam körperlich präsent bleibt, ist natürlich die Romanvorlage von Ian McEwan, welche, wie ich lese, präzise und kongenial umgesetzt ist. Doch wie nur selten im Kino stimmen hier tatsächlich alle Aspekte. Die Kameraführung ist ein Kunstwerk für sich: Im Labyrinth des Tallis’schen Landsitzes bewegt sich die Kamera wie ein eigenständiger Akteur; oft nutzt sie Perspektiven und Bewegungen für konfrontative Bilder aus, und in der Massenszene am Strand von Dünkirchen führt sie in einer tour de force durch die bedrückenden, fast surrealen Bilder, die sie fliessend, ohne Luft zu holen, zu einem Breughelschen Kriegstableau verbindet. Die soeben oscarprämierte Musik beginnt mit Brionys Schreibmaschine, die einzelnen Anschläge wie Pistolenschüsse, baut aus diesem Stakkato einen bedrückenden Rhythmus und darauf den Soundtrack zu diesem Epos auf, der nur gegen Schluss ein bisschen in der Streichersauce zu verkitschen droht. Und was soll ich sagen von den Schauspielern, wen hervorheben aus diesem durchgehend hochstehenden Ensemble? James McAvoy macht als Robbie den Schrecken des Krieges verständlich, indem er ihm sein junges, offenes Gesicht leiht, das vom Ernst und Alter übermannt wird. Keira Knightleys Cecilia lässt unter einer distanziert-aristokratischen Ebenmässigkeit das Feuer auflodern, das sie zu Robbie hinzieht und in heiligem Zorn von ihrer Familie scheiden lässt. Briony schliesslich, die Jungdichterin, die Schicksal spielt und sich damit ihr eigenes Schicksal belädt, wird von drei fantastischen Schauspielerinnen verkörpert: als Dreizehnjährige von Saoirse Ronan, die ihrem blassen Gesicht einen gespenstischen Ernst verleiht; als Achtzehnjährige, trotz aufrechtem Gang und hellen Augen von Schuld und Abbitte wie niedergedrückte Krankenschwester, fast majestätisch in ihrer Uniform, von Romola Garai; und schliesslich von Vanessa Redgrave, die in einer kurzen Szene atemberaubend direkt verstehen lässt, wie die alte Briony Tallis, die gefeierte Autorin, dem unmöglichen Ideal der Abbitte für ihre Schuld bis zum Schluss hinterher gerannt ist und dabei allenfalls diese ihre Lebensschuld als unabwendbaren Teil ihrer selbst akzeptiert hat.

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