Freitag, 7. März 2008

Jesus und die drei Mareien

Mitten aus der Luzerner Altstadt führt ein kurzer, steiler Anstieg Richtung Museggmauer hoch zur Mariahilf-Kirche. Man tritt im Untergeschoss ein, wird durch verwinkelte Katakomben geführt, vorbei an den Grabnischen der Ursulinerinnen, steigt Treppen empor, gelangt endlich in den Kirchenraum: klassizistisch nüchtern, nicht gross, aber überraschend hoch; auf mittlerer Höhe ein durchgehender Umgang, darüber die Orgelempore. Die Tribüne steht im Chor; man setzt sich, blickt durch die Kirche nach hinten. Auf der Spielfläche sparsame Requisiten: ein Tisch, ein Gebetsschemel, ein Wasserbecken; dazwischen die Personen, jung und alt, sitzend, flüsternd, sprechend, spielend; einer sitzt am Tisch und blättert in einem alten Codex. Man hört Textfetzen, mal gemurmelt, mal gesprochen, in allen möglichen Sprachen: der Anfang des Johannesevangeliums in babylonischer Vielfalt. Dann fokussiert das Licht – und plötzlich diese Klarheit: In die Stille hinein hebt der am Tisch zu erzählen an:

"Ganz am Afang isch es Wort gsii. S’het öpper gredt, und d’Wält und s’Läbe sind entschtande. Alles, wos git, isch us dem gliiche Wort gmacht. S’git nüt, wo us öppis anderem gmacht isch als us dem Wort. Und s’Läbe isch s’Liecht vo de Mönsche worde."

Die uralten Worte, im vertrauten Dialekt, unprätentiös, unmittelbar. Hansjörg Schneider, bekannter als Krimiautor, hat die Geschichte von Jesus, die Evangelien, auf Schweizerdeutsch neu geschrieben. Louis Naef, der in den letzten Jahren wiederholt die Landschaft zur Theaterbühne erhoben hat, inszeniert jetzt in einer besonderen Landschaft, der Mariahilfkirche, diesen besonderen Text, einen der besondersten überhaupt. Koch-Schütz-Studer und Rolf Schimmermann sind verantwortlich für Musik und Klang, die eigenständige Kunstwerke sind, ohne sich in den Vordergrund zu drängen.

Es ist, wie wenn von einem altehrwürdigen, aber abgenutzten und stumpf gewordenen Text eine graue Lähmung abfiele, wie wenn seine Muskeln sich anspannen und er eine Kraft und Unmittelbarkeit zurückgewinnen würde, die er in den hochsprachlichen Übersetzungen verloren hatte. Und dann geht es mir wie mit anderen Texten, die ich erst gelesen, dann gesehen habe: Gefühle, Betroffenheit, Überraschungen beleben den zuvor nur über den schmalen Weg des Intellekts verstandenen Text. Erst in der ungeschminkten Sprache des Alltags, meines Alltags, geht mir die Radikalität vieler Szenen so richtig in die Eingeweiden: Maria, die von einem Engel erfährt, dass sie auf wunderbare Weise schwanger ist; Josef, dem ein anderer Engel diesen offensichtlichen Skandal schonend – fast vergebliche Liebesmüh – beizubringen versucht. Und dieser Jesus: schon als Knabe aufgeweckt, fast vorlaut, mit einem Selbst- und Sendungsbewusstsein, das an Arroganz grenzt. Da geht der tatsächlich zu den Gelehrten in den Tempel und sagt ihnen ins Gesicht, dass ihre Textauslegung blutleerer Quatsch ist. Und da steht der tatsächlich in seiner Heimatstadt in der Synagoge und erklärt, mit ihm breche jetzt die Zeit des Heils an. Und diesen starken Tobak bringt er mit solch liebenswerter, fester Überzeugung, dass er weder frömmlich noch abgehoben wirkt. Das sind kompakte, kräftige Szenen, die mit überlegter Lichtführung, unaufdringlicher Choreografie und präzisem Timing überzeugen.

Hansjörg Schneider wählt weise zwischen Texttreue und eigenen Zusätzen, auch wenn einzelne Szenen (diejenigen mit der Ehebrecherin und mit den Kindern) in seiner ausführlicheren Version von ihrer archaisch-kompakten Wirkung verlieren. Es geht ihm (wie bemängelt wurde) nicht um wissenschaftliche Exegese, vielmehr setzt er den Rohstoff, die Evangelien, sehr direkt auf die Bühne um. Besonderen Wert legt er auf das Erzählen: Aus der Fülle der biblischen Geschichten wählt er vor allem Gleichnisse und Predigten aus. Sein Jesus ist ein Geschichtenerzähler; einer, dem man gerne zuhört, ein Menschenfischer durch das Wort. Doch seine eigene Geschichte geht, wir wissens, nicht wirklich gut aus. Nach dem kompakten Beginn akzentuiert Schneider die Brüche, die Widersprüche und das Konfliktpotenzial dieses Messias. Er bringt dazu drei Gestalten der Volksüberlieferung ins Spiel, die drei Mareien, bekannt aus dem Volkslied "Riite, riite, Rössli". So bleiben die Worte Jesu nicht unwidersprochen. Die drei Mareien fordern ihn heraus, bringen ihn zum Nachdenken, erzwingen den Dialog. Sie legen Ungereimtheiten und Schwachstellen bloss.

Überraschungen und Fragen gibt es an diesem Abend viele, Antworten keine. In der zweiten Hälfte wird das vorher dichte Stück wie fahrig, wird die Sendung zum Sendungsbewusstsein, bleiben Widersprüche ungelöst und, natürlich, provoziert die wachsende Anhängerschaft Jesu die religiöse Obrigkeit. Keine Kompromisse, keine Versöhnung, Auftrag gegen Auftrag. Der Abend schliesst mit einer beklemmend kargen Kreuzigungsszene, im Dunkeln und in der Verzweiflung, mit den Worten des Engels aus dem achten Psalm: "Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?"


Technisches: „Jesus und die drei Mareien“ wird noch bis am Karsamstag, 22. März 2008, in der Mariahilfkirche in Luzern gespielt; Tickets gibt es online. Der Text ist im Zürcher Ammann-Verlag erschienen: Hansjörg Schneider, Jesus und die drei Mareien. Nach den vier Evangelien. Zürich 2007. ISBN 9783250105138.
Bereichernd fand ich die Interviews mit Schneider im Online-Report und in „Leben und Glauben“ sowie die Kritik der NZZ.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen