Montag, 10. März 2008

Sprachberührungen

Kürzlich unterhielt ich mich mit Frau S., einer alten Freundin, über dies und das; wir kamen auf Lyrik und Sprache zu sprechen und bedauerten beide, dass das meiste, was man heutzutage so liest, reichlich schlecht geschrieben ist; fehlerhaft ohnehin, aber auch ungelenk und lieblos. Gelegentliche Beispiele guter Literatur gleichen da Leuchttürmen im Nebel - so Arthur Schnitzlers Traumnovelle, ein Buch, das mich mit der auserwählten Schönheit seiner Sprache von der ersten Seite an in seinen Bann zog. Wie sanfte Berührungen spinnen sich die Worte um die Figuren, um Fridolin und Albertine, ein Paar im Wien des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, geleiten sie aus ihrer gutbürgerlichen, heilen Existenz in die dunklen Täler der Fantasien, des Zweifels und des Betrugs, stellen sie dabei niemals bloss, lassen sie nicht fallen, führen sie behutsam voneinander weg und wieder einander zu. Mit ruhigem Fluss, einfach und unprätentiös, entfaltet die Novelle die Geschehnisse einer erregten Nacht – die Irrungen Fridolins und die Träume Albertinens. (Oder ist es umgekehrt? Hat Fridolin nur geträumt, hat Albertine Wirkliches erlebt?) Sie legt ihnen die Saat des Misstrauens ins Herz und entwickelt daraus die fantastischen Erlebnisse zweier Menschen, deren unbekannte Begierden mächtig an die Oberfläche drängen, die an der Treue des Partners zu zweifeln beginnen und ohne Aufhebens ihre eigene zu brechen bereit sind – oder bereit wären. Denn die Protagonisten blicken zwar in die Abgründe ihrer Seele, stürzen aber nicht. So ist die Traumnovelle auch eine Geschichte der Gelegenheiten, Möglichkeiten und Alternativen, des Zögerns und des Entscheidens. Kein Traum, kein Gedanke, keine Begierde muss zwingend auch Wirklichkeit werden. Trotzdem kann man sie, einmal gedacht, nicht ungedacht machen. Vom Baum dieser Erkenntnis essen Fridolin und Albertine, und mit dieser Erkenntnis lassen wir sie zurück.

"Was sollen wir tun, Albertine?"
Sie lächelte, und nach kurzem Zögern erwiderte sie: "Dem Schicksal dankbar sein, glaube ich, dass wir aus allen Abenteuern heil davongekommen sind - aus den wirklichen und aus den geträumten."
"Weißt du das auch ganz gewiss?" fragte er.
"So gewiss, als ich ahne, dass die Wirklichkeit einer Nacht, ja dass nicht einmal die eines ganzen Menschenlebens zugleich auch seine innerste Wahrheit bedeutet."
"Und kein Traum", seufzte er leise, "ist völlig Traum."
Sie nahm seinen Kopf in beide Hände und bettete ihn innig an ihre Brust.
"Nun sind wir wohl erwacht", sagte sie - "für lange."

Wie lange Schnitzler an dem knappen Werk gefeilt haben mag? Jedes Wort ist mit schlafwandlerischer Sicherheit an seinen Platz gesetzt, die Spannungsbogen scheinen sich an den Herzschlag des Lesers anzupassen; man liest es in einem Zug, so flüssig und natürlich, wie man atmet.


Technisches: Die Traumnovelle ist in den verschiedensten Ausgaben erhältlich, unter anderem online bei Projekt Gutenberg.

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