Montag, 10. August 2009

Kalimera

Am Anfang stand eine nicht alltägliche Reiseidee einer Gruppe österreichischer Philhellenen: Sie wollten sich auf griechische Spuren ausserhalb Griechenlands begeben. Gemeint sind nicht die Spuren der Millionen griechischer Auswanderer der neuesten Zeit in Deutschland, Australien oder den USA, sondern vielmehr die Spuren und Überreste aus jenen längst vergangenen Tagen, da griechisches Leben und griechische Kultur den ganzen Mittelmeerraum, Kleinasien und die Levante dominierten – angefangen mit der griechischen Kolonisation des 8. und 7. vorchristlichen Jahrhunderts über den Hellenismus bis zum oströmischen Kaiserreich und damit zum Ende des Mittelalters. Von dieser glorreichen Vergangenheit haben da und dort, an allen möglichen und unmöglichen Orten einige wenige Dörfer, einige hundert Leute überlebt – und mit ihnen ihre Dialekte, die immer noch unschwer als Griechisch erkannt und verstanden werden.

Drei der Reisegefährten haben die Fahrten an diese unwahrscheinlichen Orte griechischer Kultur in einem schönen, wirklich bibliophilen und zu Recht ausgezeichneten Buch dokumentiert: Du bist keine Fremde hier in Kalimera (oder auf Griko, dem süditalienischen Griechischen: Zeni sù en ise ettù 'sti Kalimera). Auf Deutsch und Griechisch parallel beschreibt der Text die Reisen von Kalabrien nach Syrien, berichtet von den Begegnungen mit den dortigen Griechen und ordnet ihre Schicksale in den historischen und sprachlichen Kontext ein. Ein ausführlicher Bildteil versammelt unspektakuläre Momentaufnahmen von ärmlichen Dörfern und ausufernden Grossstädten, von alten Kirchen und weiten Landschaften. Eine gewisse Melancholie durchweht Text und Bild, denn es sind wenige, vor allem Alte, welche Sprache und Kultur noch kennen und leben, und die jahrhundertealten Traditionen scheinen trotz Überlebenshilfe und Anstrengungen überall dem Untergang geweiht zu sein. Das gilt für die letzten Überreste der Magna Graecia (von Grossgriechenland also, den unteritalienischen Kolonien des archaischen und klassischen Griechenlands), einige Gebirgsdörfer in Kalabrien und Apulien, darunter das im Titel erwähnte Calimera, wo in den letzten Jahren die staatliche Förderung sprachlicher und kultureller Minderheiten viel Gutes getan hat, aber vielleicht schon zu spät kam. Das gilt besonders für Istanbul, von den Griechen Konstantinopel oder einfach die Stadt genannt, wo die früher nach Hunderttausenden zählende griechische Bevölkerung nach den Kriegen, Pogromen und Verfolgungen des 20. Jahrhunderts auf viertausend verstreute Seelen zusammengeschrumpft ist. Das gilt ähnlich auch für die Schwarzmeergriechen, die sogenannten Pontier, die in der Türkei und in verschiedenen ehemaligen Sowjetrepubliken leben, und für den Sonderfall unter den Sonderfällen, das Dorf Al Hamidiyeh an der syrischen Mittelmeerküste, wo Nachfahren kretischer Muslime wohnen, die ihre Insel vor 120 Jahren verlassen haben. Einzig die grossmehrheitlich griechischsprachige Insel Zypern passt nicht ganz in dieses Schema und wird entsprechend summarisch abgehandelt.

Die Texte sind kurz, gleichsam Pinselstriche oder Impressionen. Die historischen und politischen Hintergründe wirken dabei manchmal langfädig, da hauptsächlich entsprechendes Handbuchwissen referiert wird – was zum Verständnis zwar hilfreich ist, aber oft auch etwas zufällig und anekdotenhaft. Die Faszination dieses schönen Buches liegt anderswo: in den unglaublichen Wendungen der Geschichte, die überall anklingen; im Zusammenspiel von Text und Bild; in den sehr persönlichen Berichten über Begegnungen auf der Reise, über spontane Gespräche in einem Griechisch zwischen österreichischem Akzent und byzantinischer Tradition.


Technisches: Reinhard Gassner, Kunrich Gehrer, Paul Rachbauer: Du bist keine Fremde hier in Kalimera. ZENI SÙ EN ISE ETTÙ 'STI KALIMERA. Ξένη δεν είσαι εσύ εδώ στην Καλημέρα. Thessaloniki, Ianos / Wien, Residenz, 2008. ISBN 978-3-7017-3074-2

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