Wie es nicht geht in Wirtschaft und Politik zeigt mit brutaler Anschaulichkeit die Krise. Wie es gehen könnte, ist deshalb die Frage der Stunde. Entsprechend ist dies die beste Zeit für Visionen, Kreativität und Gegenentwürfe zum real existierenden Elend. Das müssen keine revolutionär grossen Pläne mit entsprechendem Bauchlandungspotential sein. Die Krise und das dadurch angeregte und geschärfte Denken können ja auch dazu dienen, in einzelnen Gesellschafts- und Politikbereichen überholte und unnötig komplexe Strukturen aufzubrechen und Neues zu schaffen. Diesen Ansatz hat das Denknetz mit seinem Vorschlag einer allgemeinen Erwerbsversicherung gewählt.
Das Denknetz könnte man einen Think Tank nennen. Da ich aber mit diesem Begriff eine massive, reiche und mächtige Organisation verbinde, spreche ich lieber von einer groupe de réflexion, einem Gedankenlaboratorium, einer Werkstatt für die Analyse und Lösungssuche. Das Denknetz macht den Vorschlag, alle privaten und öffentlichen Versicherungen, die für den Erwerbsausfall zuständig sind, zu einer einzigen Institution zusammenzufassen. In einem kleinen, handlichen, flüssig zu lesenden Buch wird dieser Vorschlag erläutert und argumentativ unterlegt; damit soll die Diskussion lanciert werden.
Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Feststellung, dass sich die Versicherungen, die heute den Erwerbsausfall abdecken, sowohl teilweise überlappen, ja in die Quere kommen, als auch gefährliche Lücken aufweisen. Der erste Aspekt braucht kaum ausgeführt zu werden; allzu bekannt sind die Doppelspurigkeiten und Reibungsverluste, die heute an den Schnittstellen zwischen Arbeitslosen-, Invaliden- und Unfallversicherung anfallen: In langwierigen Verfahren und mit Millionen für Gutachter und Anwälte versuchen die einzelnen Versicherungen, sich gegenseitig ihre Fälle zuzuschieben, und die Menschen, die hinter diesen Fällen stehen, leiden vielfach unter Rechtsunsicherheit und finanziellen Sorgen. Der zweite Aspekt, die Deckungslücken, hat mich Naivling, der bei einem anständigen Arbeitgeber beschäftigt ist, überrascht. Tatsächlich existiert in der Schweiz keine obligatorische Krankentaggeldversicherung. Die grosse Mehrzahl der Arbeitnehmenden ist zwar im Rahmen von Gesamtarbeitsverträgen oder freiwilligen Leistungen ihrer Arbeitgeber gegen den Lohnausfall im Krankheitsfall versichert und beteiligt sich oft auch über Lohnprozente an dieser Versicherung. Wer aber auf eine private Krankentaggeldversicherung angewiesen ist, kann sich mit hohen Prämien und brutalen Ausschlusskriterien konfrontiert sehen.
Wenn aber nun der unverschuldete Erwerbsausfall als ein zusammengehöriges Problem angesehen wird, macht es wenig Sinn, dieses je nach seinen verschiedenen Gründen in unterschiedlicher Weise anzugehen und zu lösen. So könne eine allgemeine Erwerbsversicherung in staatlicher Hand, welche die bisherigen staatlichen und privaten Anbieter ablösen würde, sowohl die Doppelspurigkeiten abschaffen als auch die Lücken stopfen. Leitprinzip ist die Gerechtigkeit: Wer unverschuldet wegen Krankheit oder Unfall nicht mehr durch eigene Arbeit für seinen Lebensunterhalt sorgen kann, darf von der Gesellschaft nicht fallen gelassen werden. Er oder sie hat Anrecht darauf, nicht zur Manövriermasse von Versicherungen zu werden, nicht hilflos in die Armut abzustürzen, sondern im Rahmen seiner Möglichkeiten ein würdiges Leben führen zu können. Zu dieser Selbstverpflichtung muss sich ein Land, das modern, demokratisch und gerecht sein will, bekennen können. Finanziert werden könnte diese vereinheitlichte Versicherung wie ihre bisherigen Teile durch Steuern und Lohnprozente. Die Effizienzgewinne durch die Abschaffung von Reibungsverlusten würden dabei die Mehrausgaben nicht aufheben, aber deutlich verringern.
Philosophisch sind die Überlegungen des Denknetz verankert im Konzept von Decent Work, von „guter Arbeit“ im Sinne der Internationalen Arbeitsagentur ILO. Es umfasst eine doppelte Verpflichtung: Arbeitgeberinnen sind verpflichtet, anständige Arbeitsplätze anzubieten; Arbeitnehmer sind ihrerseits verpflichtet, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, indem sie nach ihren Möglichkeiten solche anständige Arbeit ausführen. Das tönt etwas moralinsauer, ist aber ein pragmatischer und letztlich der einzig gerechte Ansatz. Hinter der einfachen, eleganten Definition dräuen allerdings die gleichen Diskussionen, die heute oft unversöhnlich über die verschiedenen Sozialversicherungen geführt werden – denn der Teufel liegt (natürlich) im Detail. Wer entscheidet, und wie, ob ein Arbeitsplatz den ILO-Kriterien entspricht? Diese gesellschaftlich auszuhandelnde Frage ist auch mit dem Reformansatz einer AEV nicht gelöst. Die Eleganz einer solchen vereinfachten Lösung jedoch finde ich im Vergleich zum heutigen ächzenden Mischmasch absolut bestechend.
Technisches: Ruth Gurny, Beat Ringger: Die grosse Reform. Die Schaffung einer Allgemeinen Erwerbsversicherung AEV. Ein Denknetz-Buch aus der edition 8. Zürich 2009. ISBN 978 3 85990 140 7.
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