Sonntag, 18. Oktober 2009

Unbekannte Ahnen

Staunen bei der Lektüre des Prospekts zur Ausstellung Kunst der Kelten: Es handelt sich um eine Weltpremiere; noch nie zuvor war die keltische Kunst in ihrer ganzen zeitlichen Tiefe und Entwicklung in einer Ausstellung gezeigt worden. Im Schatten der gleichzeitigen klassischen Kulturen Griechenlands und Roms, ohne eigenen Staat mit entsprechender Repräsentationskunst und vor allem ohne eigene Literatur, haben die Kelten in unserem kollektiven Unterbewusstsein wenig Spuren hinterlassen. Von Archäologie und Geschichtsforschung bis in jüngster Zeit oft vernachlässigt, ist uns dieser wichtige Teil unseres Erbes nur fragmentarisch bekannt. Das Historische Museum Bern hat es unternommen, diese Lücke zu füllen. Es hat dabei mit der grossen Kelle angerichtet, keinen Aufwand gescheut, die spektakulärsten Leihgaben aus der Schweiz, Deutschland und Frankreich zu beschaffen – und konnte die Ausstellung mit einem Paukenschlag eröffnen: Das Fürstengrab von Hochdorf, die unversehrt erhaltene Grablege einer mächtigen Persönlichkeit, verliess zum ersten Mal das Landesmuseum Württemberg. Der neugeschaffene Platz im Museum (genauer: im Kubus) zahlte sich hier aus. Grosszügig waren die vielen reichen Grabbeigaben ausgestellt, ein Modell verdeutlichte den Grabungszusammenhang, und die Informationstafeln in der BHM-typischen Prägnanz und Dichte erläuterten das Gezeigte. Danach wand sich der Weg der Chronologie nach von 700 v. Chr. bis 700 n. Chr. durch die vielen Ad-hoc-Räume. Es sprachen hauptsächlich die Objekte, klug unterstützt durch die Technik: Unzählige Bildschirme wurden verbaut, auf denen Motivanalysen verborgene Details der Objekte ins Licht rückten und im Direktvergleich Verwandtschaften und Entwicklungen aufzeigten. Weitere Kurzfilme boten jeweils eine Einleitung in jede Epoche.

Wir lernten, dass die eigenwillige und eigenständige Kunst der Kelten stark ornamental geprägt war. Auf eine Frühphase mit geometrischen Mustern folgte die Entdeckung der Wellenlinie, die sich in immer eindrücklichere Dekorationen weiterentwickelte. Anregungen aus importierten Kunstwerken wurden aufgenommen, wenn auch zaghaft und langsam. Die Götter- und Heldenwelt, ja die gesamte Ikonografie, verstanden wir kaum; rätselnd standen wir vor archaisch, gelegentlich bizarr anmutenden Darstellungen von Figuren und Tieren. Die hohe Qualität vieler Stücke war freilich problemlos evident, ebenso wie die Originalität vieler künstlerischer Schöpfungen. In römischer Zeit erfolgte jene Verschmelzung der Stile, die als gallo-römische Kunst bekannt ist und bei der unter der römischen Oberfläche keltische Eigenheiten und Traditionen durchscheinen. Wellenlinien und Ornamentik blühten ein letztes Mal im Frühmittelalter, in den Rückzugsgebieten der Kelten, in der berühmten irischen Buchmalerei.

Die Ausstellung war didaktisch hervorragend aufgebaut. Gute zwei Stunden haben wir uns (zusammen mit unzähligen anderen Interessierten) durch 14 Jahrzehnte keltischer Kunst durchgesehen und -gestaunt, ohne dass uns die Zeit lang oder die Beine müde geworden wären. Die präsentierten Spitzenstücke und die Reduktion der komplexen Thematik auf ein paar wenige, entscheidende Aussagen hinterliessen einen abgerundeten, bleibenden Eindruck.


Technisches: Die Ausstellung hat ihre Tore am 18. Oktober geschlossen. Angekündigt ist eine Wiederaufnahme im Landesmuseum Württemberg in Stuttgart, vom September 2012 bis zum Januar 2013. Der Katalog zur Ausstellung, herausgegeben vom Vater der Ausstellung und Kelten-Spezialisten Felix Müller, ist bei NZZ Libro erschienen.

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