Samstag, 7. Februar 2009

Der Heilige Berg

Der Athos, der Heilige Berg des orthodoxen Christentums, fasziniert mich seit bald zwanzig Jahren. Ich habe unzählige Bücher darüber gelesen und hatte zudem das seltene Glück, diesen von der Welt abgeschotteten Ort auch selber besuchen zu können. Die ursprüngliche schlichte Begeisterung für die einzigartige Struktur, Architektur und Bedeutung des Heiligen Berges ist mit all dem einem vielschichtigeren, kritischeren Urteil gewichen. Der Athos ist zu singulär, als dass ihm mit einfachen Schlagworten beizukommen wäre; und wo Menschen leben, menschelt es zwangsläufig. So ist der Heilige Berg ein Ort teils schreiender Gegensätze: Der Niedergang des aussterbenden Mönchslebens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist durch den Zuzug vieler junger, ernsthafter Mönche gestoppt und gewendet worden; zugleich hat mit ihnen eine fundamentalistische Strömung an Einfluss gewonnen (was in den letzten Jahren in heftigen, auch handgreiflichen Konflikten um die Zeloten im Kloster Esphigmenou gipfelte[1]). Die paradiesische Natur und die altehrwürdigen Klosterbauten sind das charakteristische Erbe des Athos; zugleich verändern Strassenbauten, Motorisierung und Abholzung die Oberfläche der Halbinsel unwiderruflich. Das Geld der EU wirkt Wunder in Sachen Restaurierungen und Erhaltungen; zugleich ist der Athos das einzige Gebiet innerhalb der EU, in welchem die Personenfreizügigkeit nicht gilt. Und der kürzliche Skandal um Immobilientransaktionen des reichen und wichtigen Klosters Vatopedi, der mit zu den Jugendunruhen in Griechenland beigetragen hat, zeigt, wie unheilig es auf dem Heiligen Berg zugehen kann, und dass Macht, auch geistliche, immer zu korrumpieren droht.

Vor diesem Hintergrund habe ich ein neues der unzähligen Bücher über den Athos gelesen: Mont Athos. Sur les chemins de l’Infini. Es vereinigt eindrückliche, grossformatige Fotos von Ferrante Ferranti mit einem Text von Jean-Yves Leloup – und hier wirds interessant. Der Franzose Leloup ist nämlich nach einem Nahtoderlebnis auf den Athos und zum orthodoxen Christentum gelangt, hat später fünfzehn Jahre als katholischer Dominikanermönch gelebt, sich dann wieder der Orthodoxie zugewandt und lebt heute als Autor und Lehrer (als eine Art westlich-orthodoxer Anselm Grün) in Frankreich. Der Hauptteil seines Athos-Buches versammelt unter dem Titel Lettres du Mont Athos in Form von Briefen an einen (imaginären?) atheistischen Freund eine Darstellung orthodoxer Spiritualität. Das hat mit dem Athos zunächst mal nicht viel, mit der Lebensgeschichte Leloups hingegen deutlich mehr zu tun, und der Autor verschweigt dies auch nicht, wenn er öfters anmerkt, dass viele Athosmöche diese seine Gedanken kaum unterschreiben würden. Er skizziert eine moderne Spiritualität, die einerseits zu den Quellen der Orthodoxie zurückgeht, anderseits anderen Konfessionen und Religionen gegenüber absolut offen ist; mehr noch, die die Gemeinsamkeiten christlicher, muslimischer, buddhistischer und anderer Mystiken herausarbeitet und gegenüber allen Differenzen stark betont. Das ist eine spannende Lektüre, die besonders dann fasziniert, wo sie überraschende Interpretationen bietet. So ist die Diskussion der altchristlichen Dogmen, ihre Abgrenzung gegen jegliche Art von Dogmatismus, ihre Charakterisierung als Paradoxe im Geist buddhistischer Koans, die nicht ausgrenzend, sondern einigend wirken sollen, erfrischend und ermutigend (p. 66f.). Weniger überzeugend ist Leloup dort, wo er zu erklären versucht, was eigentlich nicht erklärbar ist: Dass Frauen vom Athos ausgesperrt sind, ist spirituell verständlich, aber menschenrechtlich skandalös, und die Erklärung vom „Femininen in uns“ (p. 96f.) wirkt gekünstelt. Und den Entscheid für Christus (und nicht etwa für Buddha, Mohammed oder jemand anderen) mit der Schönheit seiner Botschaft zu begründen, ist im höchsten Grade subjektiv – das weiss auch Leloup und erwähnt es, und trotzdem ist hier ein Versuch von Überzeugungsarbeit spürbar, der nicht gelingen kann (p. 28f.). Dass die französische geistliche Sprache eine starke Tendenz zum Pathos, zum Über-Christlichen hat, macht den Text gerade an solchen Stellen – wenn man davon nicht abstrahieren kann – zusätzlich etwas schwerfällig.

So ist Mont Athos einerseits ein (wie meistens wunderschönes) Bilderbuch über den Heiligen Berg und zugleich ein Textbuch zu einer modernen orthodoxen Spiritualität. Ein kurzer historischer und lexikalischer Anhang versucht dem durch den Titel ausgedrückten Anspruch besser nachzukommen, wirkt aber gegenüber dem Text der Briefe fast wie ein Fremdkörper. Wer sich wirklich über den Athos informieren will, ist mit einem der unzähligen anderen verfügbaren Titel besser bedient (etwa mit dem ebenfalls sehr persönlichen und bildgewaltigen Buch von Freddy Derwahl und Hans-Günther Kaufmann oder dem schmalen, nüchternen Bändchen von Werner Ekschmitt). Wer sich dem Phänomen Athos optisch und geistig nähern will, greift jedoch mit Gewinn zum Buch von Leloup und Ferranti.


Technisches: Jean-Yves Leloup, Ferrante Ferranti: Mont Athos. Sur les chemins de l’Infini. Paris, Editions Philippe Rey 2007. ISBN 978-2-84876-094-0. Wer sich mehr für Leloups Spiritualität und weniger für den optischen Eindruck vom Athos interessiert, für den gibt es eine günstigere Recycling-Version als Taschenbuch unter dem Titel Lettres à un ami athée (Paris, Editions Philippe Rey 2008, ISBN 978-2-84876-127-5)


[1] Um die Klammer nicht zu überladen, hier eine Fussnote: Das Kloster Esphigmenou im Nordosten der Athos-Halbinsel kann als geistiges Zentrum der Altkalendarier bezeichnet werden, die auch Zeloten (Eiferer) genannt werden. Das Festhalten am Julianischen Kalender ist dabei nur das namensgebende Element; diese Strömung nimmt für sich in Anspruch, die einzig wahre Orthodoxie (und damit das einzig wahre Christentum) zu vertreten. Insbesondere sind ihr jegliche ökumenische Bestrebungen des Teufels – und somit auch das geistige Oberhaupt der Orthodoxie (und des Heiligen Berges), der Patriarch von Konstantinopel, seitdem dieser mit dem Papst auch nur schon redet. Esphigmenou hat sich so vom Patriarchat, von der griechisch-orthodoxen Kirche und von den anderen Athos-Klöstern abgesetzt. Der Konflikt eskalierte Anfangs dieses Jahrzehnts, als der Patriarch die Klostergemeinschaft zu Schismatikern erklärte und ein Gericht gestützt darauf ihre Vertreibung vom Athos anordnete. Das Kloster wurde einer anderen, patriarchentreuen Gemeinschaft anvertraut; der Konflikt gipfelte in überaus unchristlichen Szenen, als Mönche dieser Gemeinschaft sich Zutritt zur Vertretung von Esphigmenou im Athos-Hauptort Karyes verschaffen wollten und die heiligen Männer mit Vorschlaghämmern und Feuerlöschern aufeinander losgingen (sieben zum Teil schwer Verletzte). Eine Lösung scheint noch nicht in Sicht.

Ich will den komplexen und schmerzhaften Konflikt nicht von sicherer Warte aus kommentieren, erlaube mir aber zwei Gedanken. Erstens schmerzt es mich festzustellen, dass auch in der orthodoxen Kirche Fundamentalisten und Extremisten den grössten Zulauf zu haben scheinen – Esphigmenou ist mit rund 115 Mönchen zurzeit das meistbevölkerte Kloster des Athos (Quelle: Wikipedia). Und zweitens: Die Parole der Mönche von Esphigmenou, „Orthodoxie oder Tod“, löst bei mir (wie alle Parolen, die den Begriff „Tod“ beinhalten) umgehend Pathosalarm aus. Einfacher macht das die Konfliktlösung selbstredend nicht.

Ansatzpunkte zum Weiterlesen sind die Artikel zu Esphigmenou in der Wikipedia und im OrthodoxWiki. Einblick in die Denk- und Argumentationsweise der Gemeinschaft von Esphigmenou gibt ihre eigene Website.

4 Kommentare:

  1. Sie auch"http://athos.web-log.nl/

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  2. Danke für den Link - ein schönes Blog, und Lesestoff für viele Stunden!

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  3. Für Phemios,
    gerade entdecke ich Ihre Seite, hocherfreut und dankbar.
    Es gibt eine andere Seite des Athos: die der Erinnerung. Ich war zuletzt während des Kosovo-Krieges dort, vor allem wegen dem serbischen Kloster Chilandar. Die zeitliche Distanz verwischt die unbehaglichen Erfahrungen. Was bleibt ist die "grosse Glut" des Glaubens, die Schönheit der Natur und der Liturgie, die Stille und Heiligkeit der Nächte.
    Gegenüber der tobenden Gottesferne des Westens wirkt der Heilige Berg nicht wie eine fragwürdige, mitunter skandalöse Idylle, sondern als Zeichen des Eigentlichen. Alles Wege zu Christus, dem Gott der Zärtlichkeit und Freund der Menschen.

    Mit herzlichem Gruss,
    Freddy Derwahl

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  4. Lieber Freddy Derwahl

    Es freut mich, dass ausgerechnet Sie diesen Eintrag entdeckt haben - vielen Dank für Ihren Kommentar aus dem Reichtum Ihrer Erfahrungen. Meine eigenen Erfahrungen auf dem Athos waren leider zu kurz (und vielleicht zu früh) als dass ich jenen eigentlichen Zugang zu seiner Faszination hätte finden können, der über die Spiritualität führt (und dem Nicht-Mönch wohl nie ganz zugänglich sein wird). Was bleibt ist die äussere Hülle dieser Faszination, die atemberaubende Schönheit der Klöster und der Natur.

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