Dienstag, 14. April 2009

Haller

Zu Beginn das Bild einer Kunstkammer, eines Bibliothekssaales also voller Kunstwerke und Kuriositäten aus der Natur; am Schluss ein Naturalienkabinett mit der geordneten Systematik der Biologie. Dazwischen liegt das 18. Jahrhundert, und dazwischen liegt die Ausstellung, welche das Historische Museum Bern jener Person gewidmet hat, die wie kaum eine zweite diesen dramatischen Übergang von einer universalen Gelehrsamkeit zur Fachwissenschaft verkörpert hat: Albrecht von Haller. Als Universalgelehrter ist er bekannt, und ein Genie war er zweifelsohne – doch zugleich hat er als Spezialist in gerade neu entstehenden wissenschaftlichen Disziplinen wie der Botanik und der Embryologie deren Herausbildung entscheidend vorangetrieben. Hallers dreihundertster Geburtstag war Anlass nicht nur für umfangreiche Forschungen, Publikationen und Begleiterscheinungen, sondern auch zu dieser Ausstellung, die einem der grössten Berner seinen verdienten Platz in der europäischen Geistesgeschichte zuweist. Nachgezeichnet werden zunächst sein Werdegang, seine wunderkindliche Genialität, seine Studienjahre in Tübingen und Leiden; dann die gewaltige Fussnote seines Lebens, die Alpenreise und das Gedicht Die Alpen (das en passant der Naturbegeisterung, dem Tourismus und mithin dem Reichtum der Schweiz gewaltigen Vorschub geleistet hat); und schliesslich im Detail seine wissenschaftliche und berufliche Laufbahn.

Ich weiss um die Berner Krankheit (die sich auch im Historischen Museum von Zeit zu Zeit manifestiert), Bern für den verkannten Mittelpunkt des Universums zu halten. In diese Kategorie könnte man auch die Installation auf dem Zugang zur Ausstellung verbuchen, in der Hallers Alpen in der Reihe jener 70 Bücher präsentiert werden, welche nach Dietrich Schwanitz die Welt am meisten verändert haben – allein, es ist tatsächlich etwas spezifisch Bernisches an Haller. Denn der grosse Gelehrte, der sich selber und seiner jungen Universität Göttingen im jungen Alter Weltruhm verschafft hatte, der durch Sektion, Tierversuch und Analyse Wegweisendes entdeckt und sich mit den grossen Wissenschaftlern seiner Zeit darüber ausgetauscht hat – dieser Haller kehrte 1753 ins patrizisch-verkrustete heimische Bern zurück, um dort zunächst als Rathausamtmann, dann als Salzdirektor zu amten. Nicht abgebrochen ist darob in all den Jahren seine wissenschaftliche Kreativität und seine chalkenterische, übermenschliche Schaffenskraft: Fünfundzwanzigtausend Seiten wissenschaftliche Artikel, fünfzehntausend Briefe an Korrespondenten aus ganz Europa, neuntausend Rezensionen (Angaben aus der Ausstellung, Wikipedia kennt noch mehr), zusätzlich zehn dicke Bände kommentierte Bibliografie der gesamten Medizin und Botanik hat Haller verfasst – ein Brief pro Tag, mehr als eine Artikelseite, alle zwei Tage eine Rezension, sein gesamtes Gelehrtenleben lang. Noch in dessen letzten Zügen, als er, von Krankheit geplagt, seine Schmerzen mit Opium bekämpfen musste, beobachtete er mit unverändertem Interesse die Auswirkungen der Droge und hielt sie in Publikationen fest.

Im Kubus, dem neuen, modularen Ausstellungsraum des Historischen Museums, wurde Haller mit grossem Gestus inszeniert: eine eiskathedralenartige Halle für die Alpenreise, ein Spiegelsaal für das fürstliche Göttingen, warme Farben für das heimelige Bern. Die Ausstellung war didaktisch von gewohnter Qualität und vermittelte ein faszinierendes, mir in dieser Art nicht vertrautes Gesamtbild der Wissenschaft des 18. Jahrhunderts. Aus der wie üblich gutsortierten Museumsbuchhandlung erwarb ich zum abrundenden Weiterlesen das Werk, das in Hallers reichem Wissenschaftsleben fast unterzugehen droht und doch (Schwanitz dixit) von so eminenter Bedeutung war: Die Alpen.


Technisches: Ich kann eine gewisse Schlampigkeit beim Museumsbesuch nicht abstreiten. So habe ich mich auch hier erst eine Woche vor Schluss aufraffen können und komme mit der Rezension einmal mehr zu spät.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen