Freitag, 29. Mai 2009

Kirchliche Unterwelt

Eine Dienstreise nach Genf hat mir endlich die Gelegenheit gegeben, die archäologische Stätte unter der Kathedrale Saint-Pierre zu besichtigen. Als erstes erwies ich allerdings der Kathedrale selber die Reverenz: Wie erstaunlich, nach einem Rundgang um diese vielgegliederte Kirche mit ihren ungleichen Türmen, den Anbauten, der Nebenkapelle und der klassizistischen Front im Inneren einen klaren, reinen, verständlichen Raum zu betreten! Die massiven Pfeiler lassen ihn etwas gedrungen, aber nicht ohne Eleganz erscheinen.

Um es gleich zu sagen: Von Klarheit kann im Untergrund nicht mehr die Rede sein. An der Stelle der heutigen Kathedrale standen im Frühmittelalter bis zu drei Kirchen und ein Baptisterium, darum herum der gesamte bischöfliche Komplex mit Klerikerappartements und Repräsentationsräumen. Und in vorchristlicher Zeit scheint der Ort auch bereits heilig gewesen zu sein – jedenfalls wurde die Grabstätte eines Allobroger-Fürsten gefunden, an welcher offensichtlich über Jahrzehnte oder Jahrhunderte des Verstorbenen gedacht worden war. Das preisgekrönte Museum betreibt einen grossen Aufwand, das verwirrliche Geflecht von Mauern aus sechs Jahrhunderten gedanklich zu entwirren. Ein gut beschilderter Rundgang führt auf Brücken und Passerellen über die Mauerlandschaft; Pläne, Modelle und Rekonstruktionen erläutern das Layout; ein Audioguide bietet kurzgefasste Zusatzinformationen; und Videos verdeutlichen einige besonders wichtige Punkte.

Richtig klar wird es auch dann nicht. Die Stätte ist einfach zu komplex, um in einem Anlauf und in dieser reduzierten, flachen Optik erfasst zu werden. Zur Veranschaulichung: Der Farbcode, der die einzelnen Bauphasen in den Steinen markiert, besteht aus zehn Farben – das haut den aufmerksamsten Besucher um. Vielleicht wäre diesem etwas geholfen, wenn Code und Übersichtsplan im Prospekt abgedruckt wären; aber die Analyse dieser Grabung ist auf jeden Fall harte intellektuelle Arbeit. Bevor das hier jedoch in Lamento ausartet, sei sogleich nachgeliefert, dass sie zugleich auch Spass macht. Erkenntnisgewinn liegt nämlich durchaus drin. So anschaulich wie in Genf wird hierzulande beispielsweise selten, wie sich im Lauf der Jahrhunderte durch Zerstörungen und Neubauten die Schichten mächtig übereinander gelegt haben, wie unsere Vergangenheit nicht einfach unter der Oberfläche, sondern auch viel tiefer liegt. Und nirgends sonst in der näheren Umgebung ist die von Liturgie und Macht geprägte bauliche Komplexität eines frühmittelalterlichen Bischofssitzes so gut ablesbar wie an dieser Stadt in der Stadt mit ihren verschiedenen Kirchen für verschiedene Funktionen, mit ihrem skulpturalen Schmuck, mit dem grossen Mosaikfussboden des Empfangssaales. Dass am gleichen Ort, direkt über dieser historisch bedeutenden und didaktisch wertvollen Stätte, Jahrhunderte später Calvin gelehrt und damit das Christentum weltweit umgestaltet hat, ist dann gleichsam die gedankliche Verlängerung des Museumsbesuchs in die Neuzeit hinein. Aus dem Kathedraluntergrund gibt es übrigens passenderweise einen direkten Durchgang zum benachbarten Musée de la Réforme (Vorsicht beim Klicken, Calvin legt gleich los).

Die Grabungen begannen 1976 und dauern weiter an. Die Inszenierung der archäologischen Stätte wurde 2006 erneuert und den letzten Erkenntnissen angepasst. (So ist das Fürstengrab mitten in der Ausgrabung erst vor wenigen Jahren freigelegt worden.) Dies ermöglicht da und dort einen aufschlussreichen Blick auf die Interpretationsgeschichte: Das Stadtmodell des 6. Jahrhunderts ist durch neue Funde am Abhang zum See bereits überholt; der Audioguide weist darauf hin und erläutert in Ergänzung des Modells den aktuellen Wissensstand. So steht zu hoffen, dass in einigen Jahren das Bild von der Frühzeit der Kathedrale in diesem lebendigen Museum wiederum ergänzt und verdeutlicht wird.


Technisches: Die Kathedrale Saint-Pierre erreicht man entweder direkt mit dem Minibus Nr. 36 oder einfacher zu Fuss von einer der Haltestellen rund um den Stadthügel (Molard, Croix Rouge oder Place Neuve – siehe www.tpg.ch). Der Abstieg ins Museum befindet sich rechts vor der Fassade. Die Ausstellung ist dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr geöffnet. Im Eintrittspreis von 8 Franken ist der empfehlenswerte Audioguide inbegriffen. Ein Kombiticket umfasst zusätzlich das Musée international de la Réforme und den Turm der Kathedrale.

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